EXIT MALI – Thesen zum MINUSMA-Einsatz der Bundeswehr in Mali

Zusammenfassung einer Veranstaltung am 25. September 2020 in Berlin

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Zur Einführung

Über Ursachen, Wirkungen und Motivationen des jährlich verlängerten Bundeswehreinsatzes in Mali informierten und diskutierten jeweils ein Vertreter der Informationsstelle Militarisierung und der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration. Einig war man sich in der Forderung nach Beendigung der internationalen Militärmission MINUSMA und der Polizeitrainingsmission EUTM. Einen längeren Audiomitschnitt der Veranstaltung findet ihr unter freie-radios.net.

Die Initiative gegen das EU-Grenzregime zitierte hochrangige Politiker·innen der BRD, die aggressive imperialistische Militärinterventionen vertreten. Begründungen sind u.a.: Außenhandelsorientierung sowie die Angewiesenheit auf Freien Handel.

„Seit 2013 ist die Bundeswehr mit etwa 1.100 Soldaten in Mali aktiv […] das Land wurde nicht befriedet, […] sondern zunehmend militarisiert.“ Initiative gegen das EU-Grenzregime

In einem Interview mit dem Deutschlandradio Kultur am 22.05.2010 forderte der damalige Bundespräsident Horst Köhler, „[…] dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern […].“

Die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in der Süddeutschen Zeitung vom 06.11.2019: „Die Bundesrepublik sei wie kein anderes Land ‚darauf angewiesen, dass wir einen freien Handel haben, der auf Regeln basiert‘ und dass es ‚offene Handelswege‘ gebe.“

„Gegen den Bundeswehreinsatz, den deutschen und europäischen Imperialismus in Mali sollten wir was machen, aktiv werden …“ Informationsstelle Militarisierung

Permanente Auslandseinsätze als Normalität

Christoph Marischka gab einen kurzen Abriss über die europäische und besonders die deutsche Verteidigungspolitik (besser: Militärpolitik) im Ausland, speziell in Nordafrika. Er nennt die offiziell formulierten strategischen Ziele der Bundesrepublik und der Bundeswehr und führt zahlreiche Beispiele an, wie diese Ziele sukzessiv verfolgt werden. Spätestens seit 1999 ist Deutschland nicht nur mit Waffen und Kapital an Kriegen im Ausland beteiligt, sondern auch mit eigenen Truppen. 1999 wurde von der EU eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik formuliert („Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“). Ab 2003 begannen die ersten europäischen Militärmissionen. Beispiele sind Militäreinsätze in der Demokratischen Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Guinea-Bissau.

Im Wesentlichen waren die ersten Militäreinsätze Übungsmissionen, denn eine Militärmacht braucht Einsätze, in denen sie sich beweisen und an denen sie auch lernen kann. Diese Einsätze haben fast alle auf dem afrikanischem Kontinent stattgefunden.

„Die eigenständigen EU-Militäreinsätze, die eigenständige „EU-Verteidigungspolitik“, die hat sich diesen Kontinent ausgesucht. Auch weil sich da kein strategischer Gegner von der Qualität Russlands oder Chinas die militärische Vorherrschaft beansprucht.“ (IMI)

Das Argument „Scheiternde Staatlichkeit“ als Vorwand

Ab 2003 wurde im EU-Konzept unter dem Motto „ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ ein globales Interventionskonzept skizziert. Bilaterale militärische Auseinandersetzungen sind nicht mehr der zentrale Fokus der Militärstrategen, sondern es soll vermehrt ein- und angegriffen werden, wo eine „Scheiternde Staatlichkeit“ befürchtet wird. Das Modell für „Staatlichkeit“ ist allerdings das europäische Modell. Ziele seien die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Verhinderung von Migration, die Verhinderung von Terrorismus etc. Dies seien Bedrohungen für Europa und deshalb gäbe es ein aufgeklärtes Eigeninteresse.

„[…] nach zwei begonnenen und verlorenen Weltkriegen hatte Deutschland erst mal gar keine Armee und durfte die erst wieder ganz begrenzt in einer engen NATO-Einbindung und als NATO-Verteidigungsarmee oder NATO-Armee wieder aufbauen. Solche Sachen wie strategische Lufttransporte, dass man Truppen in den Westen Afrikas oder nach Afghanistan bringen konnte, das hatte die Bundeswehr nicht und das durfte sie auch nicht haben.“ (IMI)

Geografisch wird auf West- und Nordafrika gezielt

Der Ansatz, z.B. in den Sahel-Staaten eine Staatlichkeit nach europäischem Vorbild zu gestalten, ist allein deshalb schon abwegig, weil diese Staaten im Vergleich zur BRD eine zwei- bis viermal so große Fläche besitzen, die Bevölkerung etwa ein Viertel der Größe misst und das Bruttoinlandsprodukt der betroffenen Staaten im Vergleich zur BRD um den Faktor 300 niedriger liegt.

Deutschlands Grenze im Sahel

Migration und Handel verlaufen durch die Sahel-Region. Frontex und andere europäische Programme arbeiten nicht mehr als Grenzschutz-Einrichtungen, sondern sie analysieren und behindern Bewegungsmöglichkeiten schon im geografischen Vorfeld. Für die europäische Öffentlichkeit ist die Externalisierung der Grenzen kein Aufreger mehr.

„Dann ist relativ nahe liegend, dass so eine [europäische] Form von Staatlichkeit in diesen [Sahel-]Ländern eigentlich kaum machbar ist, vor allem nicht finanzierbar ist. … Diese Vorstellung einer flächendeckenden militärischen Präsenz, die da … für Sicherheit sorgen kann, ist … hanebüchen. Oder auch von Grenzen in diesen Ausmaßen, wie sie da in den entferntesten Regionen durch die Wüste verlaufen – wie soll man die eigentlich kontrollieren.“

Quelle: A New Geography of European Power? Egmont Paper 42; James Rogers; 2013; https://www.egmontinstitute.be/content/uploads/2013/09/ep42.pdf

Geostrategische Konkurrenzen: Aufbau einer „Strategischen Autonomie“

Die Konkurrenz zwischen Machtblöcken, v.a. USA, China und Europa, angeführt durch Frankreich und Deutschland, spielt ebenfalls eine Rolle.

Seit 2010 und spätestens seit 2014 spielt der Begriff der „Strategischen Autonomie“ eine Rolle. Von Geostrategen wurde ein Gebiet namens „Grand Area“ definiert, dass alle strategischen Rohstoffe, und relevante Handelswege unter Berücksichtigung bestehender französischer Militärstützpunkten beinhaltet.

Quelle: https://minusma.unmissions.org/sites/default/files/s_2020_952_e.pdf

Eskalation der Gewalt – in europäischem Interesse?

2011 war ein bedeutendes Jahr für Nordafrika. Die NATO hat Libyen bombardiert und die Staatsführung umgebracht bzw. entmachtet. Ebenfalls hat Frankreich einen Regime Change in der Côte d‘Ivoire durchgesetzt, der Süd-Sudan wurde vom Sudan abgespalten. Die folgende Destabilisierung der Sahel-Region war absehbar und insofern mindestens in Kauf genommen. Bereits 2010 versuchte der malische Staat, gefördert von der Europäischen Union, die Präsenz exekutiver Strukturen im Norden Mali wieder herzustellen (Polizei- und Militärposten sowie ein Gefängnis). Die EU förderte dort ein State Building, das bestehende Konflikte u.a. mit um Autonomie bestrebten Tuareg weiter eskalieren ließ. Die Intervention der französischen Armee Anfang 2013 war nicht kurzfristig vorbereitet und zumindest zwischen Deutschland und Frankreich koordiniert. Die „technologischen Hochwertfähigkeiten“ (Aufklärung, Kommandostruktur, Kommunikationsstruktur, Logistik) für MINUSMA stellt die Bundeswehr, z.B. übernahm Deutschland die notwendige strategische Luftunterstützung (Versorgung, Evakuierung, Luftbetankung von Kampfjets).

Quelle: https://africacenter.org/spotlight/review-regional-security-efforts-sahel/

Militärische Konsolidierung der EU im Sahel

Die Europäische Trainingsmission (EUTM): Die Bundeswehr ist mit bis zu 450 Soldatinnen und Soldaten wesentlich an der Europäischen Trainingsmission (EUTM) beteiligt. Anfang 2020 wurde EUTM auf die Länder Mauretanien, Niger, Tschad und Burkina Faso ausgeweitet. Diese sogenannten G5-Sahel Staaten sollten nun eine gemeinsame Eingreiftruppe bilden, die weniger unter der Kontrolle der entsendenden Staaten als unter der Führung und mit Luftunterstützung Frankreichs kämpfen.

Die Mission EU Capacity Building Mission in Mali (EUCAP Sahel Mali): Polizei, Gendarmerie und Grenzschutz haben auch die Funktion, Migrationsrouten lahm zu legen.

Die Luftwaffe betreibt zunehmend militärische Stützpunkte in den Sahelstaaten. Die Versorgung der deutschen Bundeswehreinheiten und die der französischen Anti-Terror-Truppen wird über einen neuen französisch-deutschen Luftwaffenstützpunkt in Niamey (Niger) sicher gestellt. Zudem wurde die Nutzung des deutschen Luftwaffenstützpunkt bei Dakar (Senegal) verstetigt.

Die Forschungsstelle Flucht und Migration fügt soziale Begründungen von Migrationen hinzu und analysiert Wechselwirkungen zwischen der von der EU beförderten Militarisierung Malis und den sozialen Bewegungen vor Ort. Die Position der EU um das Jahr 2000 war, einen stabilen Kordon in ihrer südlichen Umgebung herzustellen, der das Mittelmeer sicher machen sollte und der ein Verhältnis von einem europäischen Zentrum und peripherem Staaten in Nordafrika herstellen sollte.

[Deutschland und Frankreich haben Spezialkräfte G5 ausgebildet,] „die oft weniger der Kontrolle ihrer jeweiligen Regierung unterstehen, sondern eigentlich mehr so eine verlängerte Fremdenlegion der französischen Truppen sind.“ (IMI)

„Die Trennung, die uns oft weisgemacht wird, zwischen MINUSMA [Sicherung des Friedensabkommens] und [und den] bösen Franzosen, … machen da ihren postkolonialen oder rekolonialen Anti-Terrorkrieg – die lässt sich einfach nicht aufrechterhalten.“ (IMI)

„Der sichere Kordon Europas war kaputt.“ (FFM)

Diese EU-Migrationsabwehr wurde 2011 durch die „Arabellion“ und die Bombardierung Libyens obsolet. Erstens hatte die Arabellion als sozialer Aufbruch Migrationsmomente zur Folge. Weiterhin hatte die Bombardierung Libyens den Effekt, dass Migration nach Libyen zunehmend schwierig wurde und dass die in Libyen ansässigen MigrantInnen nach Europa mussten. Sowohl die Aufstände als auch die militärischen Antworten darauf erhöhten die Motivation zur Migration über das Meer.

Migrationsabwehr im Sahel – Europas Antwort auf die Arabellion

Die EU musste also ihr Konzept zur Migrationsabwehr im Sahel ändern. In Folge der großen Migrationsbewegungen 2015 nach Europa wurde den Sahel-Staaten – allen voran Niger – die Schließung und Aufrüstung ihrer Grenzen aufgedrängt. Die Grenztechnologie, die von der EU geliefert wurde, ist größtenteils aber noch nicht funktionsfähig. Es fehlt an Elektrizität oder an technischer Ausrüstung der Fahrzeuge.

Aufrüstung der lokalen Behörden

Das im September 2020 neu eröffnete Zentrum der nigrischen Grenzpolizei in der Hauptstadt Niamey wurde von den USA finanziert und von der EU mit elektronischen Gerät, Software und Hardware für Erkennungstechnik und Datenbanken ausgestattet.

Eröffnungsfeier der nigrischen Grenzschutzzentrale am 15.09.2020

Die Situation nach dem Putsch in Bamako

Der Kopf der Putschisten, Goita hat kurz nach dem Putsch Rat bei dem früheren Präsidenten Moussa Traoré gesucht. In dessen Regierungszeit von 1968 bis 1991 hatte sich Mali dem Westen gegenüber geöffnet. Der jetzige Interimspräsident Bah Ndaw war ein enger Vertrauter Traorés. Traoré starb im September 2020.

Zur Geografie und politischen Situation Malis

Mali ist ein extrem heterogenes Gebilde. Bamako mit ca. 2 Mio. Einwohnern liegt weit im Südwesten, Mali hat insgesamt ca. 20 Mio. Einwohner. Der Norden ist sehr dünn besiedelt (u.a. von Tuareg). Im Zentrum Malis, vor allem in der Region um Mopti, finden derzeit die Unruhen statt, die mit dem Stichwort Djihadismus bezeichnet werden. Die allermeisten staatlichen Institutionen haben sich nach Bamako oder in die Provinzhauptstädte zurück gezogen, sie sind also in der Fläche des Landes nicht vertreten.

Quelle: https://africacenter.org/spotlight/review-regional-security-efforts-sahel/

Ausländische NGOs regieren mit

Es gibt in Mali eine Art Doppelherrschaft, speziell seit den Hungersnöten in den 70er Jahren, denn seit dem sind sehr viele NGOs nach Mali gegangen, die auch in den Ministerien als Berater sitzen. Das ist zum einen ein demokratisches Problem, hat aber vor allem zu einem Dualismus zwischen NGO und malischen Vertretern geführt, der eine spezifische Form von Governance errichtet.

Der Staat ist eine von mehreren konkurrierenden Kräften (Djihadisten, ethnisierten Milizen, malisches Militär, internationalen Truppen) an den Grenzen zwischen den Sahel Ländern. Der Putsch wird an dieser Situation nichts ändern. Genannte Kräfte haben ihre ökonomischen Interessen an Grenzkontrollen oder politische Motive.

„[Es stellt sich die] Frage …, [ob] die Organisation … [dieser] Gewalt-räume, etwas ist, dass als Dauerzustand für die europäische Situation durchaus akzeptabel ist.“ (FFM)

„Die EU braucht … im Sahel militarisierte Staaten, die ihre Grenzen schließen. Ziel ist, die ganze Gegend militärisch zu durchdringen.“ (FFM)

Der Krieg als permanente Einkommensquelle

  • Das Militär und auch die Politik in Mali haben kein Interesse den Krieg zu beenden. In Nordmali werden Friedensgespräche blockiert, auch in dem staatlichen Interesse, den Krieg zu perpetuieren, denn ansonsten würden ihnen finanzielle Mittel verloren gehen.
  • Die Nachbarstaaten haben ebenfalls kein Interesse an einem Ende des Krieges, denn sie verkaufen Militärleistungen, vor allem über den Sold der eingesetzten Militärs (G5 und MINUSMA).
  • In Bamako verdienen einige Familien am Krieg, wenn sie Familienmitglieder an das Militär oder eine der NGOs entsenden.

MINUSMA schafft also Arbeitsplätze. Außerdem transportiert MINUSMA Benzin und Diesel, die Treibstofflieferung ist ein wesentlicher Punkt für die Akzeptanz von MINUSMA.

Kapitalistische Inwertsetzung des Landes als eine Ursache von Unruhen?

Vor allem in der Fläche sind Unsicherheit und Vertreibungen möglicherweise ein Faktor, bei dem Land frei gemacht wird. Sowohl die bäuerliche Bevölkerung (z.B. Dogon), als auch Peul (Fulani, Hirtenbevölkerungen) werden vertrieben, leben in Flüchtlingslagern, das Land wird frei und Rinderfarmen oder neue Goldminen entstehen. Der Krieg ist also ein Mittel der Inwertsetzung von Land, weil die Vertriebenen nicht mehr ihre Besitzrechte geltend machen können. Landwirtschaft soll nach kapitalistischen Prinzipien ermöglicht werden.

Beispiel: Erweiterung des Office du Niger1

Bestehende Dörfer werden von Norden durch die Ausbreitung der Wüste und von Süden durch den Landbau zunehmend eingezwängt. Der Boden im Office du Niger wird zum großen Teil von bäuerlichen Familienverbänden bewirtschaftet. Die Einkünfte aus dem Anbau von Cash-Crops auf den bewässerten Flächen reichen ihnen kaum für ihren Lebensunterhalt. Der Staat favorisiert allerdings große Agrobetriebe wie den Anbau von Zucker oder Pflanzen zur Biodieselproduktion. Es folgen direkte oder indirekte Vertreibungen.

Ein anderes Beispiel für die Vertreibungen findet sich in der Region Mopti. Die Dörfer schrumpfen auf eine kleinere Fläche zusammen, weil sie aus Angst vor Milizen nur noch im nahen Umfeld Landwirtschaft betreiben.

„ … wenn von Djihadisten die Rede ist, sind das … modifizierte Jugendbanden, allerdings unter der Anleitung von erprobten Djihadistenführern, die zum Teil aus Algerien eingewandert sind.“

Häufig sind es Jugendliche, deren Familien selbst solchen Gewaltsituationen ausgeliefert waren und es als Sache der Ehre oder der Rache nehmen, eine Zeit lang zu den Milizen zu gehen. Auch hier spielt die Verhinderung der Migration eine Rolle. Die Bevölkerung Malis ist sehr jugendlich. Migration dieser jungen Leute fand immer statt, in den 1960er Jahren in die Elfenbeinküste, in den 1990er und 2000er Jahren nach Libyen, in die Hauptstadt Bamako oder die Provinzstädte sowieso. In der aktuellen Einengung der Möglichkeiten ergibt sich als Alternative, sich Milizen anzuschließen. Es sind in der Regel keine Djihadisten, die sich dem religiösen Kampf widmen, die jungen Männer sind in der Regel auch nicht besonders religiös, sondern sie machen das eine Zeit lang, verdienen etwas Geld und sammeln Erfahrungen und kehren dann in ihre Dörfer zurück. Die Milizen sind ethnisiert, die Fulani-Jugendlichen haben eher die Tendenz sich djihadistischen Milizen anzuschließen. Die bäuerlichen Dogon-Jugendlichen haben eher die Tendenz in ethnische Milizen zu kämpfen.

In den traditionellen Dörfern existierte noch vor 20 Jahren ein strenger Paternalismus (Herrschaft der Männer über die Frauen, Herrschaft der Familientradition). Der Aufbruch der Jugendlichen aus diesen Dörfern heraus ist ein wesentlicher Faktor des Wandels. Die traditionelle Migration hatte und hat Überweisungen von Geldern und den Transport neuer Erfahrungen zur Folge.

Mali ist eine sehr mobile Gesellschaft, was zur Zeit sehr eingeschränkt ist. Die Einschränkung der Mobilität trägt zu soziale Konflikten auf engen Raum, das trägt zur Gewaltsamkeit bei.

„Wohin können diese Jugendlichen gehen? Gibt es die Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, eine Zeit lang Geld zu verdienen … und diesen patriarchalen Strukturen zu entfliehen? Das gilt nicht nur für die jungen Männer, sondern auch für die jungen Frauen.“ (FFM)

„Wenn es jetzt ein Mittel gibt, gegen diese Gewaltsituation … vorzugehen, dann scheint mir das allerwichtigste zu sein…, diese Migration zu ermöglichen, die Grenzen öffnen … und nicht diese Gewaltsamkeit mit noch mehr Militär anfeuern.“ (FFM)

Auszüge der anschließenden Fragerunde

Welche politischen Perspektiven seht ihr für Mali?

FFM: Es gibt regional und zwischen den Klassen und Bevölkerungen Malis unterschiedliche Sichtweisen.

Um und in der Hauptstadt Bamako gibt es eine vergleichsweise kleine „politiknahe Schicht“, die keine repräsentativen Positionen vertritt. Diese Schicht sucht Einkommen und laviert zwischen Staatsjobs und NGOs. Sie ist unfähig, eine landesweite Konsensbildung anzusteuern.

In der Peripherie, die von der Mehrheit der Bevölkerungen Malis bewohnt wird, sind breite Bevölkerungsschichten im Widerstand gegen die Staatsorgane, die ihnen vor allem als korrupte Bürgermeister, Steuereintreiber und als Sicherheitskräfte gegenüber stehen.

Eine Lösung der vielfältigen Konflikte ist nicht durch Staat und Militär möglich – wenn, dann durch Entmilitarisierung, lokale Verhandlungslösungen und Bewegungsfreiheit. Aber dem stehen viele Interessen entgegen, und nicht zuletzt die Interessen der EU.

Welche anderen Beispiele für eine militärische Interventionen Deutschlands oder anderer EU-Staaten seht ihr?

(Frage eines Vertreters der Mali-AG von afrique-europe-interact (AEI), https://afrique-europe-interact.net)

IMI: Bereich der Großen Seen in Afrika, Motivation sind dort die Vorkommen strategischer Rohstoffe. Mali wird eher als „Hinterhof“ der EU bzw. Deutschlands betrachtet. Weiteres Motiv für verlängerte Militäreinsätze sind die deutschen oder französischen Truppenteile selbst. Sie haben ein Interesse an einer Perpetuierung der Einsätze, um das Gefühl und die Offenbarung des Kontrollverlustes in der Region nicht eintreten zu lassen.

Wie schätzt ihr die militärische Situation nach dem Putsch am 18. August ein? Ist es richtig, dass unter dem Militärrat verstärkt im Norden gegen djihadistische Gruppen vorgegangen wird?

IMI: Die IMI hat derzeit keine fundierte Einschätzung. Der Tonfall der Putschisten verheißt, dass die „Einheit des Landes“ und die „Partnerschaft mit Frankreich und der EU“ vorgesehen sind. Die Handlungsfähigkeit, insbesondere die militärische Handlungsfähigkeit in offensiven Projekten gegen djihadistische Milizen im Norden bleibt angesichts der u.a. geografischen Bedingungen zweifelhaft. Vom Militärrat sind bislang keine Anzeichen für eine Verhandlungen oder Versöhnung mit den Konfliktparteien erkennbar.

FFM: Es ist sehr schön, dass sich ein Vertreter von AEI zu Wort meldet. Natürlich ist das Votum der Menschen in Mali entscheidend, aber auch AEI mit den guten Verbindungen nach Mali kann nur Ausschnitte sehen. FFM gibt zu Bedenken, dass das malische Militär nicht die Interessen der Bevölkerungen der Sahel-Staaten vertreten kann. MINUSMA ist Finanzier der Armeen Malis, Nigers, Tschads sowie der politischen Klasse in Bamako. MINUSMA und einige politische Klassen bewirken eine Schließung der Grenzen. Die ECOWAS-Staaten insgesamt haben aber ein Interesse an freien Migrations- und Handelswegen. Insofern sollte es einen Interessenkonflikt zwischen dem Militärrat und MINUSMA einerseits sowie dem Großteil der Bevölkerung andererseits geben. FFM sieht nicht, das der Militärrat eine Interesse an Verhandlungen in Nord-Mali hat.

Wie seht ihr die Perspektiven der Menschen in Mali und die Konsequenz, wenn MINUSMA aus Mali raus gehen würde?

IMI: „MINUSMA beenden kann ich nicht. Ich fordere aber, dass die Bundeswehr abgezogen wird. Ich glaube, dass man in einem weniger militarisierten Mali eher die „Stimmen der Anderen“ hören kann. Momentan artikulieren sich nur bewaffnete Gruppen und die M5-RFP. Ein Vergleich mit Afghanistan ist möglich. Dort hat sich nach 20 Jahren militärischer Intervention mit enormem Einsatz an Personal und Geld noch immer nichts verbessert. Die Taliban sind erstarkt, der Opiumanbau hat sich erweitert, die Sicherheitslage ist (in der Fläche) katastrophal. Erst in jüngster Zeit stellen sich leichte Verbesserungen ein – durch Verhandlungen.

FFM: MINUSMA sollte beendet werden, denn Einschließung der Bevölkerung und Schließung der Grenzen steht im Interesse gar keiner der Bevölkerungsgruppen in Mali.

Ini gegen das EU-Grenzregime: MINUSMA hat nicht die offizielle Funktion, die Bevölkerung zu schützen, sondern sie soll das malische Militär schützen. Verweis auf Äußerung des nigrischen Journalisten Moussa Tchangari: Die Bevölkerung hat 2 Probleme – korrupte Regierungen und ausländisches Militär, dass diese stützen.

FFM: Ohne die Festung Europa hätte es MINUSMA nicht gegeben. Wir sollten die Festung Europa schleifen und Migration ermöglichen.

Welche wirtschaftlichen Interessen (außer das der Militarisierung der Region) haben die Regierungen Deutschlands und anderer Staaten?

IMI: Verweist auf Abbildung des Egmont Instituts „Grand Area“. Es geht auch um die allgemeine „Kontrollpolitik“ in der Region. Imperialismus kann man auch als Idee verstehen, andere Mächte aus der Region herauszuhalten. Rohstoffe für die eigene Wirtschaft gibt es in der Gesamtregion einige: Gold, seltene Erden, Uran. Die Uranförderung in der Region ist zwar stark rückläufig und die Preise ebenfalls, aber Uran bleibt (für Frankreich) ein strategischer Rohstoff ersten Ranges. Es handelt sich um ein „Sammelsurium von Interessen“. Eines der Beispiele ist Desertec, eine Stiftung mit dem Ziel, Gelder für extrem große Solaranlagen zu akquirieren.

FFM: Der Kapitalismus benötigt Gold, Uran etc. Er benötigt aber einen Großteil der Menschen nicht. FFM würde weniger eine ökonomische Definition des Imperialismus meinen, als den Imperialismus als eine Tötungsmaschinerie bezeichnen.

Beitrag eines Vertreters von AEI: Die Thesen über die jeweiligen Interessen sollten den Menschen im Sahel und in Mali übermittelt werden, denn es ist wichtig, dass die Meinungen der betroffenen Menschen ernst genommen werden. Beispielsweise ist die Funktion von MINUSMA als notwendige Rückendeckung der Operation Barkhane in der Region weitgehend unbekannt. Der Aufwand, eine transnationale Diskussion darüber zu beginnen, kann sich lohnen. Transnationale Proteste gegen Abschiebungen von Europa aus in die Sahel-Staaten waren schon mal erfolgreich.

Zum Nachhören (Ausschnitte): freie-radios.net

Initiative gegen das EU-Grenzregime in Afrika: https://grenzfall.blackblogs.org/

Informationsstelle Militarisierung e.V.: https://www.imi-online.de/

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e.V.: https://ffm-online.org/

Zum Weiterlesen: Informationsportal migration control: https://migration-control.info/

Berlin, November 2020


  1. Großes ehemals koloniales Bewässerungsprojekt aus den 30er Jahren.↩︎